Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist keineswegs ausschließlich eine Erkrankung des Kindesalters. Vielmehr zeigt die große Mehrheit der Betroffenen auch als Erwachsene zumindest zeitweise noch Symptome. ADHS kann hochwirksam medikamentös behandelt werden, wobei für die Gruppe der Stimulanzien die größten Effektstärken erzielt werden.
Bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird zwischen unterschiedlichen, früher als Subtypen bezeichneten, Symptomclustern unterschieden, nämlich Hyperaktivität (übersteigerter Bewegungsdrang), Unaufmerksamkeit (gestörte Konzentrationsfähigkeit) und Impulsivität. Da sich die Symptomatik über die Lebensspanne verändern kann, spricht man heute statt von Subtypen von prädominanter Präsentation, so Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. Man habe früher gedacht, dass sich ADHS mit dem Erwachsenwerden „auswachse“, dies sei jedoch keineswegs so und in sehr vielen Fällen bleibt die Symptomatik im Erwachsenenalter bestehen. Bis zu 70 Prozent der betroffenen Kinder weisen auch im Erwachsenenalter noch ADHS-Symptome und/oder funktionelle Beeinträchtigungen auf. Die häufigste Präsentation entspricht dem kombinierten Subtyp mit sowohl eingeschränkter Aufmerksamkeit als auch Hyperaktivität. Daneben kommen sowohl ein reines Aufmerksamkeitsdefizit (ADS) als auch selten ein rein hyperaktiv-impulsiver Subtyp vor.
Die Betroffenen werden in aller Regel bereits früh im Kindesalter auffällig. Sie sind emotional instabiler, zeigen behaviorale Disinhibition, oft in Verbindung mit koordinativen, motorischen und sprachlichen Problemen. Die volle Manifestation der ADHS zeigt sich häufig erst in der Schulzeit, wenn die Anforderungen steigen, so Philipsen. Dies führt häufig zu schulischem Scheitern und oft sind die betroffenen Kinder Mobbing und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. In der Folge kommt es in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter zu dysfunktionalem Verhalten, reduziertem Selbstwertgefühl und häufig zu Substanzabusus. Hyperaktivität und Impulsivität nehmen mit zunehmendem Alter in der Regel ab, das Aufmerksamkeitsdefizit bleibt jedoch häufig bestehen.
Man weiß, so Philipsen, dass ADHS ausgeprägt und bis zu 70 Prozent hereditär ist. Polygenetische Risikoscores wurden mittlerweile publiziert. Die bisher bekannten Loci erklären jedoch auf der individuellen Ebene die Erkrankung zu lediglich 20 Prozent und damit bei Weitem noch nicht in vollem Maß das gehäufte Auftreten in Familien. Frühgeburtlichkeit und niedriges Geburtsgewicht stellen unabhängige Risikofaktoren für die Entwicklung einer ADHS dar. Ebenso dürften Umweltfaktoren wie eine Exposition gegenüber Pestiziden, Blei oder Paracetamol eine signifikante, aber geringe Rolle spielen. Psychosoziale Stressoren wie emotionale Deprivation oder chaotische Lebensumstände können sich ungünstig auf die ADHS-Symptomatik auswirken, spielen jedoch keine kausale Rolle für die Entstehung der Erkrankung. ADHS führt zu einer verzögerten Reifung des Gehirns, die jedoch mit den Jahren aufgeholt wird, wie Philipsen betont. Insbesondere die fronto-subcortical-zerebellären Schleifensysteme zeigen bei Menschen mit ADHS sowohl funktionelle als auch strukturelle Auffälligkeiten, was Beeinträchtigungen von Aufmerksamkeit, Belohnungsverarbeitung sowie exekutiven und motorischen Funktionen bedingt. Man spreche, so Philipsen, von einem „ADHD Brain“ mit verringerter aufgabenbezogener Aktivierung und verringerter aufgabenbezogener Deaktivierung des Default-Mode-Netzwerks, die die exekutive Dysfunktion bei ADHS bedingen.
Bei ADHS handelt es sich um eine häufige, nicht auf das Kindesalter begrenzte Entwicklungsstörung. Die Prävalenz in der erwachsenen Bevölkerung wird mit 2,6 Prozent angegeben. Auch im Seniorenheim fände man noch Menschen mit ADHS, so Philipsen, wobei auch Überlappungen beispielsweise mit milder kognitiver Beeinträchtigung ins Spiel kommen.1
Eine Persistenz der ADHS ins Erwachsenenalter wird bei etwa der Hälfte der betroffenen Kinder angenommen, Philipsen betont jedoch, dass fast alle Kinder mit ADHS auch im Erwachsenenalter noch in irgendeiner Weise Symptome zeigen. Diese sind nicht bei allen Betroffenen permanent vorhanden, sondern treten häufig fluktuierend und nur in bestimmten Lebensabschnitten auf. Eine vollständige Remission der Symptomatik ist eher die Ausnahme als die Regel.2
Für die Diagnostik und Behandlung liegen evidenzbasierte S3-Leitlinien vor. Der erste Schritt besteht in einer strukturierten Anamnese mit ausführlicher Erhebung der Biografie, beispielsweise auch im Hinblick auf abgebrochene Ausbildungen, Scheitern etc. Hierfür wurden verschiedene standardisiertes Interviews/Fragebögen entwickelt, die für die Anamnese verwendet werden sollen. Dabei lässt die Leitlinie die freie Wahl, welcher der standardisierten Fragebögen zum Einsatz kommt. Die ausführliche Erhebung der Biografie ist insofern wichtig, als es sich bei ADHS nicht nur um eine Quer-, sondern vor allem um eine Längsschnitt-Diagnose handelt. Von besonderem Interesse sind dabei funktionelle Einschränkungen in Kindheit und Jugend. Auch eine Fremdanamnese ist gefordert, Schulzeugnisse liefern wertvolle Informationen. Eine neuropsychologische Testung kann ergänzend vorgenommen werden, ist jedoch nicht zwingend erforderlich und keinesfalls ausreichend für eine ADHS-Diagnose. Ein Routinelabor und neurologische Untersuchung zur Differenzialdiagnostik runden das Prozedere ab.
Die Divergenzen zwischen DSM-5 und ICD wurden mit der Präsentation von ICD-11 aufgelöst. Nun kann auch nach ICD (wie zuvor schon nach DSM-5) ein ADHS auch dann diagnostiziert werden, wenn die Symptome erst später in der Kindheit aufgetreten sind, wenn das Aufmerksamkeitsdefizit im Vordergrund steht oder wenn zusätzlich eine Autismusdiagnose vorliegt.
Zur Aufmerksamkeitsstörung, die sich beim Erwachsenen oft in Desorganisation äußert, kommt häufig eine ausgeprägte emotionale Dysregulation mit Labilität und mangelnder Affektkontrolle hinzu. Dass emotionale Dysregulation bei ADHS im Erwachsenenalter hochprävalent ist, zeigen mittlerweile auch große Metaanalysen. Die emotionale Dysregulation ist hochsignifikant mit der Schwere der ADHS-Symptomatik assoziiert und hat sich auch als Risikofaktor für eine Persistenz der ADHS vom Kindes- ins Erwachsenenalter erwiesen.3
ADHS ist mit weiteren psychischen und somatischen Erkrankungen assoziiert und stellt einen Risikofaktor für ungünstige psychosoziale Entwicklungen einschließlich verfrühter Mortalität dar. Nicht nur eine Reihe psychiatrischer Erkrankungen wie Depression und Angststörung, sondern auch Typ-2-Diabetes und Hypertonie sind mit ADHS assoziiert und damit das kardiovaskuläre Risiko erhöht. Es gibt, so Philipsen, keine psychiatrische Erkrankung, die bei Erwachsenen mit ADHS nicht gehäuft auftritt. Dies betreffe auch Psychosen, wobei es sich zumeist um vorübergehende, polymorphe Psychosen und selten um das Vollbild einer Schizophrenie handelt.
ADHS ist sehr gut behandelbar. Philipsen betont, dass bei keiner anderen psychiatrischen Erkrankung mit medikamentösen Maßnahmen hohe Wirksamkeit erreicht werden. Stimulanzien sind nach wie vor erste Wahl in der Behandlung des ADHS bei Erwachsenen, ihre Effektstärke wird mit 0,8 angegeben. Einige weitere Substanzen haben sich ebenfalls als wirksam erwiesen und sind zum Teil auch in dieser Indikation zugelassen. Zulassung besteht neben den Amphetaminen auch für Methylphenidat und Atomoxetin, wirksam, aber nicht zugelassen, ist unter anderem das Antidepressivum Bupropion. In der Behandlung von Kindern mit ADHS ist Methylphenidat die wirksamste Option.4
Bei Kindern zugelassen, für Erwachsene jedoch nur in wenigen Ländern verfügbar ist das ursprünglich als Antihypertensivum entwickelte Guanfacin, ein selektiver Agonist an postsynaptischen Alpha2a-Rezeptoren. In Studien bei Erwachsenen konnte Wirksamkeit mit einer Effektgröße von 0,5 gezeigt werden. Guanfacin ist insofern von Interesse, als sich das Nebenwirkungsspektrum mit Müdigkeit und Blutdrucksenkung deutlich von dem der Stimulanzien unterscheidet. Daher kommt es, auch off-label, vor allem dann zum Einsatz, wenn Hyperaktivität und Impulsivität im Vordergrund stehen oder Stimulanzien beispielsweise wegen einer Suchterkrankung kontraindiziert sind.5
Die Therapie soll im Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzepts erfolgen, das neben der medikamentösen Behandlung auch eine ausführlichen Psychoedukation sowie psychosoziale und vorrangig kognitiv-behaviorale Therapien mit einbezieht. Allerdings zeigte die multimodale COMPAS-Studie, dass Methylphenidat unabhängig von Psychotherapie wirksam ist, dass eine strukturierte Psychotherapie jedoch keine bessere Wirkung auf die Kernsymptomatik des ADHS hatte als Counseling.6
Das Langzeit Follow-up von COMPAS über 1,5 Jahre nach dem Ende der kontrollierten Studie zeigt übrigens, dass die medikamentöse Behandlung des ADHS selbst dann einen gewissen Langzeiteffekt hat, wenn sie nach einem Jahr abgesetzt wird. Patient:innen, die kontinuierlich Methylphenidat einnahmen, schnitten jedoch über die gesamte Beobachtungszeit besser ab.7
- Song P, J Glob Health 2021; 11:04009
- Sibley MH et al., Am J Psychiatry 2022; 179(2):142–151
- Beheshti A et al., BMC Psychiatry 2020; 20(1):120
- Cortese S et al., Lancet Psychiatry 2018; 5(9):727–738
- Iwanami A et al., J Clin Psychiatry 2020; 81(3):19m12979
- Philipsen A et al., JAMA Psychiatry 2015; 72(12):1199–210
- Lam AP et al., JAMA Netw Open 2019; 2(5):e194980
„ADHS im Erwachsenenalter – State of the Art and Beyond“, Plenarvortrag,
24. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsycho-pharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB), virtuell, 17.11.22
Author: Tina Herrera
Last Updated: 1703270402
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